49 – Kolumbien – wo Extreme sich treffen

07. November 2016 – 27. Januar 2017

Route: La Hormiga > Mocoa > San Agustín > Manizales > Cartagena > Minca > Santuario Flora y Fauna Los Flamencos > Manaure > Cabo de la Vela > Bogotá > Cartagena

Wir sind aktuell 11‘000km von Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt entfernt. Dort waren wir ebenfalls im November aber vor 2 Jahren. Jetzt sitzen wir am Cabo de la Vela, fast am nördlichsten Punkt des südamerikanischen Festlandes. Wir wollen hinauf nach Punta Gallinas, das wäre dann definitiv der nördlichste Punkt. Extrem!

Doch wir können lange wollen, die Wetterkapriolen lassen unsere Pläne buchstäblich ins Wasser fallen. Die Pisten sind meterhoch überschwemmt, hätten wir keinen 4×4 wären wir nicht mal bis zum Pilón de Azúcar gekommen. Extrem!

Wir geniessen einen Rundumblick auf Dünen, Meer und das weite Hinterland und lassen unsere Gedanken schweifen und schauen auf die Kohlefrachter, die weit im Meer draussen auf ihre schwarze Fracht im Hafen Puerto Bolívar warten. Unsere Gedanken sind bei den letzten Tagen. Die Erlebnisse haben sich überhäuft, wir können sie fast nicht Verdauen. Wir erleben ein Extrem nach dem anderen. Nicht das erste Mal, aber das erste Mal so ausgeprägt extrem!
Nach den kühlen nebligen Kaffeelandschaften erschlagen uns die karibischen Temperaturen und die enorme Luftfeuchtigkeit fast. Extrem!

In Cartagena, der hübschen Kolonialstadt, einst grösster spanischer Hafen, grösster Sklavenumschlagplatz, umtost von der Karibik und angegriffen von Sir Francis Drake, von einer fast noch intakten, uneinehmbaren Stadtmauer umgeben, treffen wir im Frachthafen Manga liebe Freunde, die auf dem Weg von Havanna nach Papete genau einen Tag hier Rast machen. Nein, sie sind nicht mit dem Container gekommen, sie sind mit dem Luxuskreuzfahrtschiff MS Europa ll auf Cruise. Wir verbringen mit ihnen einen Tag, wie wir ihn nicht in den kühnsten Träumen gewagt hätten zu träumen. Etwas underdressed geniessen wir nicht nur das Ambiente, sondern dürfen uns mit Champagner, exquisitem perfekt gereiften Käse und wunderbaren Rotweinen verwöhnen lassen. DANKE!! Während wir im französischen Restaurant mittagessen, werden Container mit Esswaren geladen, um die halbe Welt geschifft, nichts dem Zufall überlassen. Die Qualität muss stimmen auf diesem Niveau. Alle Wünsche werden schnellstmöglich erfüllt. Die Suiten sind vom Feinsten, mit und ohne Whirlpool. Kunst wohin wir schauen. Etwas über 400 Passagiere reisen auf diesem Schiff, das sich rühmen darf, am meisten Platz pro Passagier zu bieten. Extrem!

Anderntags, in den Gassen Cartagenas gibt es für uns wieder Arepas vom Grill, frische tropische Früchte, ausserhalb des Stadtkerns geht es hektisch zu und her, russende Lastwagen, schreiende Verkäufer, fertig mit der Ruhe. Unser schönes Hotelzimmer im Dachstock wird beim morgendlichen Gewitter geflutet, wir bekommen ein anderes – immerhin!

Und jetzt, im Norden kommt das nächste Extrem! Auf der nördlichen Halbinsel La Guajira übernachten wir bei den dort lebenden Wayúu. Sie konnten sich gegen die spanischen Konquistadoren geschickt abgrenzen, trieben Handel mit ihnen oder kämpften gegen sie. Sie sprechen nebst Spanisch ihr eigenes Idiom, arbeiten als Fischer, Ziegenbauern oder als Naturführer im Santuario Los Flamencos. Die Frauen sind geschickt und häkeln wunderschöne Beutel, Mochillas, knüpfen Chinchorros (netzartige Hängematten) oder weben Hamacas in aussergewöhnlichen Mustern und Farben. Die Wayúu leben traditionell in Rancheros, kleinen sippenmässigen Ansiedlungen in einer Rancho, einer Lehmhütte. Der äusserste Norden ist karg, ausser kurzgewachsenen Algarrobo Bäumen und einer Vielzahl Kakteen gibt das Land nicht viel her. Wir besuchen mit Ender, unserem Führer in einem „Segelboot“, das diesen Namen eigentlich nicht verdient hat (das Segel ist aus Futtersäcken zusammengenäht und hat mehr Löcher als Segelfläche). Wir bekommen Flamingos zu sehen, rote Ibisse und deren weisse Jungvögel. Pelikane schiessen ins Wasser, jeder Tauchgang ein voller Erfolg. Kormorane trocknen ihre Flügel und rosa Löffler stochern im seichten Wasser. Die Wayúus fischen hier ebenfalls, nicht nur im Meer, die Crevetten sind von ausgezeichneter Qualität und sicher mehr als bio. Bis eines Tages, vor einigen Jahren, kein Wasser mehr vom Fluss aus der Sierra Nevada in die Lagune kam und sie fast trocken lag. Ein listiger Viehzüchter hatte am Oberlauf das Wasser für seine Kühe und sich selber abgezweigt, da ist man eingeschritten, glücklicherweise bevor die Vögel verschwanden und die Menschen ihrer Nahrungsgrundlage beraubt wurden. Ender führt mich herum im Dorf. Fliessendes Wasser gibt es in den wenigsten Ranchos. Strom wird überall mit Generatoren und Schmuggelbenzin aus Venezuela hergestellt. Das WC ist hinter dem Gebüsch oder ein Plumsklo, als Badewanne dient die Lagune oder das Meer. Ich wage nicht zu fragen, woher das Trinkwasser kommt, der Kaffee war auf jeden Fall süss, heiss und gut und auch die Chicha, das verkochte Maisgetränk ist mir bekommen. Enders Tante zeigt mir ihre Häkelarbeit und ihren Webstuhl, dann setzt sie sich wieder in die Chinchorro und häkelt wortlos ihre kunstvollen Beutel.

Wir kehren zurück und essen in der Strandbeiz von Tschiggi einen wunderbar zubereiteten Red Snapper mit Kokosreis. Die Köchin erklärt mir in der Küche das Rezept für den Kokosreis; ich bin nur mit halber Sache dabei und denke an meine Küche daheim mit dem ganzen Schnickschnack. Tschiggi, der umsichtige Kellner umsorgt uns herzlich. Er will am Abend nach Riohacha, nein nicht in die Disco wie wir denken, er will sich an einem Colegio einschreiben weil er studieren möchte, doch die schicken ihn wieder heim. Wieso? Er braucht einen Götti, der ihn empfiehlt. Das hat er nicht und er kennt niemanden mit Einfluss oder Status, der für ihn einstehen könnte. Also ist der Traum für längere Zeit ausgeträumt und der 19-jährige Wayúu Bursche wird weiterhin servieren. Es sind eben doch nicht alle gleich.

Am Cabo de la Vela rattern abends die Generatoren. Ohrenbetäubend die halbe Nacht. Nichts von Romantik. Wir fragen nach, da gibt es doch einen Windpark und eine Stromleitung. Die Männer lachen laut. Eine Sauerei sei das, der Windpark und die Stromleitung seien eine Farce, noch nie sei Strom für ihre Hütten durch die Leitungen geflossen, der Windpark liefert nur Strom für die Kohleförderung.

Irgendwelche Backpackers aus Europa beklagen sich lautstark, dass es in den Hostals keine Betten gäbe, nur Hängematten, worin sie nicht schlafen könnten. Hier wie überall am Meer wo es feuchtheiss ist, ersetzt sie das Bett. Wir verlassen die Gegend, die Wetteraussichten sind trübe. Ausser Kitesurfen kann man hier nichts tun und die trostlose Aneinanderreihung von Hütten sind wohl Lokalkolorit und authentisch aber nicht wirklich anmächelig. Da ist das Nichtschlafenkönnen wohl noch das kleinere Übel.

Aus dem Nieselregen ist mittlerweile eine Sintflut geworden. Die Sandpiste nach Uribia ist teilweise ein Bachbett oder rutschig wie Schmierseife. In Riohacha lassen wir einige Stunden später bei heissem Sonnenschein unser Auto waschen. Ein junger Mann in zerissenen Hosen und schäbigem T-Shirt erklärt mir freudestrahlend, er werde unser tolles Auto wieder weiss waschen. Vor zwei Wochen hat er Venezuela verlassen können um sich in Kolumbien als Fremdarbeiter zu verdingen. Er ist nicht allein, zu Hunderten kommen sie, es wird geschafft, angeschafft (Prostitution ist für Frauen oft die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen), eingeschafft (Schmuggelgüter wie gestohlene Autos und Benzin) und ausgeschafft (Nahrungsmittel und Hygieneartikel, die in Venezuela schon lange nicht mehr erhältlich sind). Eine ganze Generation wird durch die sozialistische Regierung ihrer Zukunft beraubt und eine Lösung ist vorderhand nicht in Sicht. Extrem!

(Für 1 US Dollar werden heute 2.7 Mio Bolívares bezahlt. Die jährliche Inflation kann nicht mehr in Prozenten ausgedrückt werden. In den 1980er Jahren waren die Kolumbianer als Fremdarbeiter in Venezuela, dem einst durch enormen Erdölvorkommen reichsten und bestentwickelten Land Südamerikas).